Goldener Elfenstaub

 

 

 

Als Sainde auf ihrem morgendlichen Spaziergang über die Wiese schritt, hörte sie plötzlich ein Geräusch, das sie schon sehr lange nicht mehr gehört hatte. Sie blieb stehen und lauschte. Ja, sie hörte es ganz deutlich!

Sie versuchte, dem Laut zu folgen, bis sie am Ufer des Flusses stand, an dem eine kleine Figur saß und herzzerreißend schluchzte. Sainde musste zweimal hinsehen um zu erkennen, dass vor ihr ein junger Kobold saß, der offensichtlich tiefen Seelenkummer hatte. Eigentlich durften Elfen mit Kobolden keinen Kontakt haben, aber der Kleine drückte soviel Hoffnungslosigkeit aus, dass Sainde diese Regel ignorierte und sich neben ihm ans Ufer setzte. Zuerst saß sie nur geduldig da, doch der Kobold beruhigte sie einfach nicht, und so sprach sie ihn an.

Als er ihre Stimme hörte, die klang wie ein Blätterrauschen im Wald an einem Frühlingsmorgen, sah er auf und blickte in zwei sanfte violette Augen. Zuerst erschrak er furchtbar und wollte aufspringen, doch Sainde nahm ihn bei der Hand und hielt ihn sachte, aber bestimmt zurück. So blieb dem kleinen Kobold nichts anderes übrig, als sitzen zu bleiben und auf das zu warten, was da kommen würde. Er kannte das Gesetz, das verbot, sich mit Elfen zu unterhalten. Er hatte furchtbare Angst vor diesen schillernden Wesen, denn zuhause, unter den Wurzeln der uralten Steineiche, hatte seine Großmutter ihm furchtbare Dinge über diese fliegenden Glitzergnome erzählt. Sie würden die Wesen des Waldes verzaubern und ganz böse Dinge mit ihnen anstellen, wenn sie nicht ihren Befehlen gehorchten.

Doch als er nun in Saindes freundliche Augen blickte, wollte er den Geschichten der großen Kobolde nicht mehr so recht glauben.

„Mein Kleiner, warum weinst Du denn so bitterlich, dass den Glockenblumen die Töne in den Knospen gefrieren?“ fragte das Elfenmädchen den nun nicht mehr ganz so trostlos aussehenden Koboldknaben.

„Ach, ich bin so unglücklich! Mein ganzes Leben ist so furchtbar! Und es gibt keinen Ausweg aus meinem Dilemma. Ich weiß nicht, was ich tun soll“, antwortete der Knabe. Komischerweise erschien es ihm im Moment überhaupt nicht falsch, mit dem freundlichen Mädchen mit den zartlila Flügeln zu reden. Es antwortete ihm nun mit einer Stimme, die wie das Wasserrauschen des Flusses nach einem Sommerregen klang: „So groß ist dein Kummer? Willst du ihn mir erzählen? Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung für dein Problem. Und wie ist überhaupt dein Name?“ Sainde war vor den Kobolden gewarnt worden. Schon seit Generationen wurden bei ihr Geschichten von diesen widerwärtigen Kreaturen erzählt, die nichts anderes zu tun hatten, als hilflose Lebewesen zu quälen. Und einmal sollen Kobolde sogar einer Elfe die Flügel ausgerissen haben! Doch vor diesem kleinen Mann in seiner grünen Hose mit dem viel zu großen Hut auf dem Kopf fürchtete sie sich nicht. Er macht eher einen niedlichen Eindruck auf sie.

Stockend begann der Kobold zu erzählen: „Mein Name ist Munnigan, und ich bin ein Kobold des Waldes. Letzte Woche bin ich zweiundsiebzig Jahre alt geworden, und nun verlangt meine Familie von mir, mich meinen älteren Brüdern anzuschließen und die Menschen zu ärgern. Zuerst wollte ich das nicht, doch mein Vater erklärte mir, dass die Menschen böse Wesen seien, die die Tiere des Waldes töten, die Bäume verletzen und die Wiesen in Erdfurchen verwandeln. Und wenn sie einen unglücklichen Kobold erwischen, dann quälen sie ihn solange, bis er ihnen das Versteck eines Schatzes verrät. Wir Kobolde haben keine Schätze, das haben die Menschen nur über uns erfunden! So manche Kobold ist schon von diesen Riesen zu Tode gefoltert worden, weil er ihnen keinen Schatz geben konnte. Mein Vater meint, die Menschen verdienen es nicht anders, als von uns geärgert zu werden. Ich wollte das nicht glauben! Es muß doch auch gute Menschen geben! Es kann nicht sein, dass diese Lebewesen, die doch auch eins mit der Natur sein sollten, so grausam sind. Doch mein Vater packte mich uns schleppte mich zu Ferlogann, unserem Zauberkundigen. Der zeigte mir in seiner Mondstaubkugel Bilder von Menschen, wie sie Tiere töten, Wiesen zerstören und Bäume verbrennen. Ich war todunglücklich. Wie konnte das sein! Wie kann die Große Mutter das nur zulassen! Da die Menschen also wirklich so sind, wie man mir erzählt hat, bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als ein Kobold zu werden, der Menschen das Leben schwer macht, indem er ihnen Dinge versteckt und böse Streiche spielt. Aber ich will nicht so sein. Irgendwas in mir wehrt sich dagegen, und meine Brüder lachen mich deswegen aus. Oh, ich bin so unglücklich! Wenn ich bis zum nächsten Vollmond nicht wenigstens ein Kind zum Weinen gebracht habe oder nicht mindestens einer Menschin  den Kuchen verdorben habe, wird man mich von den Wurzeln der großen Eiche verstoßen.“ Und da fing Munnigan wieder an zu schluchzen.

Sainde war tief getroffen. Sie betrachtete den kleinen Kobold mit den großen Füßen und den orangefarbenen Haaren und empfand tiefstes Mitleid mit ihm. Da wollte dieser Wicht gut sein aus tiefstem Herzen und man ließ ihn nicht. Nein, man setzte Zweifel und Haß in sein Herz, um ihn gegen andere Lebewesen aufzubringen. Das wollte und konnte Sainde einfach nicht zulassen. Sie war schon immer ein trotziges Elfenmädchen voller Ideale gewesen, weshalb sie auch ihre Flügel ein bisschen später als die anderen Elfenkinder bekommen hatte. Zur Strafe, weil sie den Traditionen der großen Elfen nicht gehorchen wollten, sagten die Alten. Aber das nahm Sainde damals gerne in Kauf, wenn sie dafür nur ihren Willen behalten konnte.

Nun saß sie neben dem wieder schluchzenden Munnigan und ließ ratlos die Beine ins Wasser des kleinen Wildbaches hängen. Sie überlegte, wie dem Koboldkind zu helfen sei.

Als sie mit ihren zarten Füßchen ein paar Tropfen aufspritzte, kam ihr der rettende Gedanke. Sie kramte aus ihrem violetten Röckchen einen kleinen grünen Beutel hervor, den sie nun behutsam öffnete.

Munnigan war so in seine düsteren Gedanken versunken, dass er gar nicht merkte, was neben ihm geschah. Doch als Sainde  vorsichtig etwas goldenen Staub aus ihren feingliedrigen Händen in die Höhe blies, da sah er erstaunt auf die glitzernden Körnchen, die fröhlich durch die Luft wirbelten und einen silbernen Laut verbreiteten, der in Munnigans Ohren wie der Gesang der Vögel an einem heraufdämmernden Frühlingsmorgen klang. Sainde flüsterte ein paar kurze Worte, anscheinend in einer uralten Sprache, die nur mehr den Elfen bekannt war, und des Kobolds Augen glänzten und weiteten sich in Erstaunen, als der Elfenstaub zu glimmen und leuchten begann. Vergessen war die Angst, dass ein Elfenmädchen einen kleinen Kobold ganz leicht verzaubern könnte, er hatte nur mehr Augen für das leuchtende Spiel über dem Wasser, das langsam Formen anzunehmen schien. Munnigan rieb sich die Augen und sah nochmals hin, und diesmal war er noch verzückter als vorher. Er hob die Hand und wollte diesen Tanz der Farben berühren, doch Sainde hielt ihn mit einem leisen „Bitte nicht“ davon ab. Allmählich konnte der Knabe Figuren im Lichtschein erkennen, er war sich sicher, dass er Menschen sehen konnte. Vor Erstaunen öffnete er den Mund, als wollte er etwas sagen, aber wenn jemals Worte aus seinem Hals dringen sollten, so blieben sie dort stecken.

Jetzt konnte der Kobold es genau sehen: Im Tanz der Farben und Lichter zeigte der Elfenstaub ihm Szenen aus dem Leben der Menschen. Er sah Kinder, die nach einem langen Spiel auf der Wiese ins Haus kamen und von ihrer Mutter freudig begrüßt wurden. Er sah einen Mann, der den ganzen Tag schwer gearbeitet hatte, um seine Familie zu ernähren, und nun stürmisch von seinen Kindern und mit einem liebevollen Kuß von seiner jungen Frau begrüßt wurde. Er sah ein junges Pärchen im Mondenschein spazieren gehen und den Zauber des ersten Kusses erleben, er sah alte Frauen die Vögel am Waldrand füttern, den Jäger sich um ein verletztes Reh kümmern und ein Kind einem alten Mann beim Tragen von einem großen Bündel Brennholz helfen.

Mit einem kurzen Lachen Saindes, das klang wie das Konzert von tausend Maiglöckchen, die im Wind ihre Blütenblätter tanzen lassen, erblassten die Bilder und der Elfenstaub bekam seine alte goldene Farbe zurück und schwebte mit dem Wind davon.

Schweigend saßen nun der kleine Kobold und das Elfenmädchen am Flussufer zusammen.

Nach einer Weile fasste sich Munnigan und begann leise zu sprechen: „Es gibt also nicht nur das Eine....“

„Nein, es gibt auch das Andere“, führte Sainde seine Gedanken fort, „und man kann die Menschen nicht nur in eine Kategorie einteilen.“ Ihre Stimme klang nun klar und weise wie die einer gelehrten Eule.

Munnigan blickte nun auf  und sah lange in Saindes klare Augen. Sie las in seinen braunen Augen, die nun grünlich schimmerten, eine neu aufkeimende Hoffnung und eine unsagbare Freude. Er öffnete nach einigem Zögern seine kleinen rubinroten Lippen, auf denen er während seinen Überlegungen herumgekaut hatte, und begann vorsichtig: „Und die Entscheidung.....“

Es klang nicht wie eine Frage, aber Sainde wusste, was er meinte. „Die liegt allein bei dir.“ Antwortete sie ihm schlicht.

Noch ein Weilchen ruhten ihre Augen ineinander, die des nun ganz und gar nicht mehr verzweifelten spitznasigen Koboldjungens und die des in diesem Moment weiser gewordenen Elfenmädchens.

 

Ohne eine weiteres Wort zueinander sprangen die beiden  jubelnd auf und liefen Hand in Hand über die Wiese in Richtung des aufgehenden Mondes.

 

 

 

 

 

 

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